Der Weltrekord war der Höhepunkt der Karriere und ein Akt der Verzweiflung zugleich. Es war der Frust über den Mitte Mai 1980 beschlossenen deutschen Startverzicht bei den Olympischen Spielen in Moskau, der Guido Kratschmer vier Wochen später am 15. Juni in Filderstadt im 25. Zehnkampf seiner Karriere 8649 Punkte zusammentragen ließ (heutige Wertung: 8667). Damit löschte er die Marke des jungen Briten Daley Thompson (8622) aus, der dann in Moskau mit 8495 Zählern Gold gewinnen durfte.

»Athleten die Betrogenen«

»Ich hatte bis zuletzt die Hoffnung, dass wir teilnehmen dürfen«, sagt der Mann aus Großheubach, der vier Jahre zuvor in Montreal mit 23 Jahren bereits Olympia-Silber gewonnen hatte, ein Vierteljahrhundert danach. Seine Gefühle von damals beschreibt er so: »Als ich die Nachricht vom Startverzicht hörte, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich war so optimistisch gewesen, dass ich in Moskau Gold gewinnen könnte, denn ich war im besten Zehnkampf-Alter und optimal vorbereitet.«

Was ihn so deprimierte, war die Vorahnung, dass dieser Boykott niemandem helfen, aber vielen schaden würde. Kratschmers bittere Erkenntnis: »Der Sport wurde benutzt, die Athleten waren die Betrogenen. Und in Moskau hat man das Volk glauben gemacht, die Russen wären auf Grund ihrer vielen Goldmedaillen die Allergrößten.«

Bei langen Spaziergängen in den Bergen versuchte Guido Kratschmer abzuschalten, und bei einer dieser Touren beschloss der Bauernsohn aus Unterfranken, den Gipfel zu erklimmen. »Ich musste wieder zu mir selbst finden und dachte: Mach jetzt den Weltrekord. « Der Termin Mitte Juni war nicht ideal, denn die Form war erst vier Wochen später für Olympia geplant: »Aber ich wusste, dass ich körperlich in guter Verfassung war.«

In Filderstadt hatte er Glück mit idealen Bedingungen, spürte aber sofort den Druck: »Ich durfte mir keinen Schnitzer erlauben. Als ich im 400-Meter-Lauf die Durchgangszeit von 24 Sekunden hörte, war das wie ein Schock. Ich habe dann alles gegeben – und am Ende habe ich es geschafft. Es war ein Gefühl der Befreiung.«

»Die Chance des Lebens?«

Guido Kratschmer, der seine Karriere eigentlich mit Gold in Moskau beenden wollte, machte wegen des Boykotts weiter, 1981 und 1982 allerdings mit großen Motivationsproblemen. Die folgenden Jahre waren ein Abschied auf Raten. Bei den Spielen 1984 in Los Angeles, diesmal von Sowjets, DDR und anderen sozialistischen Ländern boykottiert, wurde Kratschmer Vierter hinter Thompson, dem damals als Weltrekordler entthronten Uerdinger Jürgen Hingsen und seinem Mainzer Clubkollegen Sigi Wentz.

Bis heute bleibt ein fader Nachgeschmack seiner olympischen Retrospektive: »In Montreal war ich zu jung, in Los Angeles zu alt. Und als ich in der Blüte der Jahre war, wurde ich um die Chance meines Lebens gebracht.«

Quelle: main-netz.de

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